Gesichtswahrung - Hinhaltetaktik um BBC Singers

Auf die deutliche Kritik an der Entscheidung, ihr Vokalensemble kurzfristig aufzulösen, reagiert die BBC mit einer Hinhaltetaktik, die – wie es ein Beobachter formuliert – nichts über die nächste Woche hinaus ändert und in erster Linie die verantwortlichen Führungskräfte vor dem unmittelbaren Gesichtsverlust bewahrt.
Wie die BBC mitteilte, habe „eine Reihe von Organisationen“ ihr „alternative Finanzierungsmodelle“ angeboten. Daher habe man mit der Gewerkschaft vereinbart, die Abwicklung des Ensembles „auszusetzen“ und es auch bei den diesjährigen Proms-Konzerten mitwirken zu lassen. Insider sehen hier einen vorläufigen Erfolg des mutigen Brandbriefs der Chorleitung.
Bekannt ist mittlerweile ein weiteres Detail: Der Stellenabbau bei den Orchestern konzentriert sich aus politischen Gründen ganz auf London und trifft somit rund ein Drittel der Musiker des Sinfonie- und Konzertorchesters. Im Falle einer Umsetzung ist deshalb sehr schnell mit einer Zusammenlegung zu rechnen.
Vom Tisch ist unterdessen die Auflösung des Radio-Symphonieorchesters Wien. Im Zusammenhang mit einer Änderung des Gebührenmodells (künftig ist nicht mehr der Besitz von Rundfunkgeräten das Kriterium) hat die österreichische Regierung diesen Plan des ORF umstandslos abgeräumt.
Stand vom 25.03.2023

17. März 2023:
Kulturfreunde sehen einen direkten Zusammenhang dieses Themas mit dem Fall des Sportreporters Gary Lineker, mit dessen Suspendierung sich die BBC ein beispielloses Eigentor geschossen hat.
Bereits 2022 thematisiert wurde die Höhe der Honorare, die Lineker von der BBC erhält: Mit damaligem Stand jährlich 1,35 Millionen Pfund (entspricht 1,54 Mio. Euro), vier Jahre zuvor sogar 1,75 Millionen Pfund (volle zwei Millionen Euro).
Es ist der Vergleich mit den BBC Singers, der zeigt, wie hier jedes Maß verlorengegangen ist: Allein für diesen einen Star wendet die BBC fast so viel Geld auf wie insgesamt für den Chor, dessen Budget sich auf 1,8 Millionen Pfund beläuft.
Bekannt ist inzwischen ein Brandbrief der Chorleitung an den Rundfunkrat der BBC. Wie es darin heißt, sehe man sich zu diesem Schritt gezwungen, da die zuständige Direktorin Musik, Lorna Clarke, unmittelbar nach Bekanntgabe der Auflösung in den Urlaub abgereist sei.
Das Schreiben konstatiert eine „toxische Kultur“ in der BBC, „vom Generaldirektor abwärts“. Die eigenen Erfahrungen einer „aggressiven und konfrontativen“ Gesprächsführung seitens Clarke würden immer wieder durch Erzählungen anderer Kollegen bestätigt.
Es sei eine „Kultur von Angst und Paranoia“ geschaffen worden, indem schwerwiegende Entscheidungen kurzerhand, „ohne jede seriöse Analyse oder sinnvolle Beratungen“, getroffen werden.
Die Direktorin Clarke habe genau einmal ein Konzert aufgesucht, in dem die BBC Singers mitwirkten. Ansonsten sei der angeschriebene Rundfunkratsvorsitzende Sharp das einzige Mitglied der Senderführung, dem der Chor überhaupt ein Begriff ist.
Niemand von denen, die bei der Entscheidung zur Abwicklung mitwirkten, habe jemals einen Auftritt oder die Probe- und Aufnahmearbeit besucht. Das gelte ausdrücklich auch für die Verfasserin der Studie, mit der die Auflösung des Chores gerechtfertigt wird.
Die dazu veröffentlichte Pressemitteilung sei „eine krasse Peinlichkeit“. Es sei „atemberaubend“, wie die BBC glaube, mit dieser Art von Kommunikation „irgendetwas anderes zu erreichen als die schwierige Lage, in der Sie sich jetzt wiederfinden“.
Der Vorschlag zur Auflösung sei zunächst den Führungskräften des Hörfunks mitgeteilt worden. Der Programmchef von Radio 4 habe davon am Rande „einer externen Veranstaltung in Deutschland im Oktober“ weiteren Mitarbeitern erzählt.
Die danach zur Rede gestellte Direktorin Clarke habe alles abgestritten und von einer „Verwechslung“ gesprochen. Jetzt sei sie nicht in der Lage, überhaupt den Betrag zu nennen, der mit Abwicklung der BBC Singers und Stellenabbau in den Orchestern eingespart wird.
Der Brandbrief schließt mit den Worten, man sei „schockiert“ von den Ereignissen der letzten Monate, die mit den grundlegenden Werten der BBC nicht vereinbar seien. Man habe „kein Vertrauen in das Leitungsteam der BBC“ und sehe den Vorsitzenden des Rundfunkrats in der Pflicht, „die Verantwortung für die Krise, in der wir uns jetzt befinden, zu übernehmen“.
11. März 2023:
Die Pressemitteilung über die Auflösung der BBC Singers mutet orwellianisch an. Das beginnt bereits bei der Überschrift: „Neue Strategie für klassische Musik priorisiert Qualität, Agilität und Impact.“
Inzwischen ist auch etwas mehr bekannt als das, was in dieser Aussendung zwischen den Zeilen steht. So steckt hinter dem angekündigten Abbau von einem Fünftel der Stellen bei den BBC-Orchestern in England wohl die noch nicht offen ausgesprochene Absicht, das Sinfonie- und Konzertorchester in London zusammenzulegen.
Der Chor soll seine Tätigkeit bereits in der ersten Julihälfte einstellen. Nach Einschätzung von Beobachtern geht es bei dieser schnellen Abwicklung darum, eine nochmalige, womöglich von Protestbekundungen begleitete Mitwirkung bei den Proms-Konzerten zu verhindern.
Untergebracht sind die BBC Singers in den Musikstudios im Stadtteil Maida Vale. Diesem 1946 eingerichteten Standort ergeht es nicht anders als dem Ensemble: Er wird geschlossen.
Zur Einordnung dieses Vorgehens ist es nicht erforderlich, erneut das Funkhaus in der Berliner Nalepastraße zu bemühen, da es dafür auch ein aktuelles Beispiel gibt: In Moskau.
Die Trennung von Klangkörpern wiederum ist bereits im deutschsprachigen Europa ein akutes Thema. Zur Disposition steht das Radio-Symphonieorchester des ORF.
Dazu führt nicht erst der aktuelle Druck, 300 Millionen Euro bis 2026 einzusparen: Eine Ausgliederung des Orchesters war schon einmal geplant.
Unterdessen eskaliert die Diskussion über die Frage, wie es um die Unabhängigkeit der BBC steht. Ein Thema ist die Entscheidung, einen Film von David Attenborough, der wirksame Maßnahmen zum Umweltschutz fordert, nicht im linearen Programm auszustrahlen, sondern nur in der Mediathek bereitzustellen.
Völlig entglitten ist der BBC der Fall des Sportreporters Gary Lineker. Dieser war für die private Äußerung einer politischen Meinung kritisiert worden und lehnte es ab, den entsprechenden Tweet zu löschen.
Deshalb zog ihn die BBC von der Moderation ihrer Fußballsendung am 11. März ab und löste damit eine unvermutete Kettenreaktion aus: Alle anderen in Betracht kommenden Moderatoren, Studiogäste und Interviewpartner waren zu keiner Mitwirkung bereit.
Damit gab es keine Möglichkeit mehr, Studioteile und Kommentierung zu produzieren. Der BBC blieb nur noch, eine auf 20 Minuten gekürzte Sendung zu präsentieren, die lediglich unkommentiertes Bildmaterial mit Originalton enthielt.
Beitrag von Kai Ludwig