Afghanistan - Was wurde aus „Mustafa 47“?

Mustafa Kazemi: Even now not all of RFE/RL staff have been evacuated from Afghanistan. USAGM and RFE/RL had various ways but they insisted on awaiting US government resources.
© @CombatJourno

Vor einem Jahr wurden an dieser Stelle ausführlich die verzweifelten Tweets eines Teamleiters von Radio Free Europe / Radio Liberty in Kabul zitiert. Nicht unbeantwortet bleiben soll die Frage, was aus Mustafa Kazemi geworden ist: Er konnte mit Frau und Kind in ein neues Leben starten, in dem allerdings der Auslandsrundfunk der USA keine Rolle mehr spielt.

Drastisch zum Ausdruck kommt das in einer Bettelseite. Auf ihr gibt Kazemi auch Auskunft darüber, wie es ihm und seiner Frau, einer Fernsehjournalistin, sowie ihrem Kleinkind erging.

Demnach hat sich die Familie, nachdem die Hoffnungen auf eine Evakuierung enttäuscht wurden, selbst auf die Flucht begeben und in mehreren afghanischen Städten versteckt, bis es ihr unter erheblichen Schwierigkeiten gelang, die Grenze nach Pakistan zu überschreiten.

Von dort aus fanden die Kazemis zunächst Asyl in Albanien. Erst im März 2022 gelang es ihnen unter Ausnutzung von Beziehungen, das 2021 vollmundig zugesicherte Asylrecht für Mitwirkende amerikanischer Medien in den USA wahrzunehmen.

Nachdem die Deutsche Welle ihre aus Afghanistan herausgeholten Leute nach eigenen Angaben jetzt in Bonn einsetzt und Kazemi bei RFE/RL den Status eines Teamleiters hatte, könnte man auf die Idee kommen, von einem weiteren Engagement in Washington auszugehen.

Doch dem ist, wie der Spendenaufruf zeigt, nicht so. Kazemi ist nach wie vor auf der Suche nach dauerhafter Beschäftigung und gibt seinen Frust darüber gelegentlich auch auf Twitter zu erkennen.

Im April äußerte er sich konkret über seinen früheren Auftraggeber. Dabei nahm er Bezug auf den auch hier zitierten Kommentar der Washington Post und äußerte sein Bedauern darüber, keine Möglichkeit für ein Gespräch mit dem Autor gefunden zu haben:

„Während die Chefs von RFE/RL alle Schuld auf US-Regierung und Militär abwälzten, hatten wir viel darüber zu sprechen, was RFE/RL und US Agency for Global Media hätten tun können, jedoch unterließen.
Selbst jetzt sind immer noch nicht alle Mitarbeiter von RFE/RL aus Afghanistan herausgeholt, darunter einige der Spitzenjournalisten, die unter meiner Führung in einem Eliteteam investigativer Reporter gearbeitet haben.
USAGM und RFE/RL hatten verschiedene Möglichkeiten (wir haben sie der Leitung seinerzeit vorgeschlagen), doch sie bestanden darauf, auf die Ressourcen der Regierung zu warten.
So konnten wir nur dabei zuschauen, wie viele private Medienhäuser der USA ihre Mitarbeiter fast mühelos und in geordneter Weise ausflogen – etwas, das wir eigentlich von einem Medienbetrieb der US-Regierung erwartet hätten.“

Das Ausmaß der Fragen, die hier unbeantwortet bleiben, ist an einem technischen Detail abzulesen: Bis zum heutigen Tage werden Programme der US-Auslandssender über zwei Großmittelwellen in Afghanistan abgestrahlt. Es ist völlig unbekannt, was man davon eigentlich halten soll.

Kazemi seinerseits griff auch auf, wie sich nichteuropäische Kritiker in aller Härte über den Umgang mit afghanischen Flüchtlingen in Deutschland äußerten. Dazu lautete seine Forderung, „jemanden“ zur Verantwortung zu ziehen.

Stand vom 29.07.2022

Mustafa Kazemi: What’s the difference between an Afghan refugee & a Ukrainian refugee? Skin color? Ethnicity? Or the fact that Afghans have suffered for the past 20 years at the hands of policies of countries like Germany? Someone must be held accountable for what they’re doing to these refugees
© @CombatJourno

Text vom 17. August 2021:

Auf Twitter ist zu lesen:

„Ich stecke mit meiner Frau und meinem Kind aussichtslos in Kabul fest. Hunderte anderer Journalisten stecken auch fest. Ich habe eine elf Monate alte Tochter. Bitte beten Sie für ihre Sicherheit.“
„Ich habe, seit sich diese Lage in Kabul entwickelt hat, über 100 Interviewanfragen bekommen. Nur eine Handvoll der Journalisten zeigte sich solidarisch. Die meisten bestanden darauf, ihr Interview zu bekommen. Keiner von ihnen sagte, sie würden jemanden anrufen, um mir dabei zu helfen, Kabul zu verlassen!“
„Nach einem Interview zu fragen gehört zu unserer Arbeit, es ist nichts falsch daran. Es wird aber ein wenig unsensibel, wenn Sie dabei ignorieren, wie jemand versucht, seine kleine Tochter und seine Frau vor den Taliban zu schützen. Das Interview kann ihn zum Hinrichtungskandidaten machen. Seien Sie menschlich.“
„Die Taliban haben damit begonnen, von Tür zu Tür zu gehen, um nach Regierungsvertretern, Angehörigen von Sicherheitsbehörden und denen, die für ausländische NGO oder Infrastrukturen gearbeitet haben, zu suchen. In der vergangenen Stunde wurden die Häuser von mindestens drei Journalisten durchsucht. Kabul wird nun tödlich.“
„Viele haben begonnen, die letzten Stunden ihres Lebens in Kabul zu zählen. Niemand weiß, was als nächstes kommt. Betet für uns.“
„Auf dem Kabuler Flughafen sieht es jetzt wie in dem Spielfilm ‚World War Z‘ aus.“
[Bislang letzter Eintrag vom 17.08.2021, 6.01 Uhr MESZ:] „Wir sind okay. Immer noch in der Falle. Immer noch keine Evakuierung.“
Mustafa 47: We are okay. Still trapped. No evacuation yet.
Auf den letzten Tweet, den Mustafa Kazemi aus Kabul absetzte, reagierte auch noch die Pressestelle von RFE/RL. | © twitter.com/CombatJourno

Von RFE/RL veröffentlicht wurde eine Sprachnachricht:

„Ich weiß nicht, wie lange ich hier sicher sein werde. Mancherorts gehen sie jetzt herum, um Haus für Haus zu durchsuchen. [...]
Einer unserer Kollegen sah, wie die Taliban von Haus zu Haus gingen, um diesen bestimmten Block zu durchsuchen. Sie haben die gesuchte Person vor seinen Augen erschossen, vor der Wohnung, in der sie lebten.
Unsere Kollegen sind fertig. Mental und psychisch geht es ihnen nicht gut. Aber physisch ist ihnen gottseidank bis jetzt nichts passiert.
Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich eine Chance habe, herauszukommen und wie ich zum Flughafen gelangen könnte, weil ich mir nicht vorstellen kann, dort hinzufahren, wenn die Taliban auf der Straße sind.“
RFE/RL: „To be honest, I don’t even know if I have a chance to get out, how I would go to the airport“
Die originale Visualisierung des zitierten Beitrags | © RFE/RL

Der Geschäftsführer der Sendergruppe um Tolo-News in Kabul hat mit NPR gesprochen:

„Der Präsident hatte sich ja offensichtlich entschlossen, wegzurennen. Seine abrupte, geheime Abreise löste dann den Zusammenbruch des Systems aus. Ironischerweise waren es wir, die diese Nachricht verbreiteten. Und dann war es für die Regierung eben vorbei. Minister verließen ihre Posten, Polizeioffiziere verließen ihre Posten, und so brach alles zusammen.“

Zu der Frage, ob Tolo-News seine Berichterstattung nun in irgendeiner Weise geändert habe, sagte der Geschäftsführer:

„Nein. Das wird passieren, aber nicht jetzt. Aber wie Sie sich denken können, wird es mich nicht überraschen, wenn ziemlich schnell Restriktionen eingeführt werden. [...] Es ist wie eine Konfrontation mit Außerirdischen. Wir wissen nicht, wie sie reagieren werden.“

Zum Vergleich mit der Lage vor zwanzig Jahren:

„Heute haben wir Social Media. Wir haben richtige Medien. Wir haben Satellitenfernsehen. Die Leute haben seit 2001 so viel mehr gesehen, auch die Mitglieder der Taliban. [...] 65 Prozent der [heute lebenden] Afghanen haben nie eine Herrschaft der Taliban erlebt. Ich denke, es wird eine schockierende Erfahrung für sie werden.“

Zu der Frage, ob er Restriktionen im Bereich Social Media erwarte:

„Absolut. Wir unterschätzen die Taliban. Sie sind ziemlich klug. [...] Wenn sie einmal den Staat betreiben, werden sie leistungsfähige Überwachungssoftware beschaffen. Und sie sind sehr transparent, was die Frage betrifft, welche Art von Afghanen sie sehen wollen. Es wird viel restriktiver und konservativer werden. [...]
Eine Schlüsselfrage ist auch, wer sich bei den Taliban durchsetzen wird. Es gibt dort verschiedene Flügel. Sie haben moderate, pragmatische Flügel. Und sie haben harte Ideologen. In den nächsten zwei bis drei Monaten wird sich herausstellen, wer dieses Tauziehen gewinnt.“

 

Autor: Kai Ludwig