Die Literaturagenten - Rachel Kushner: "Ich wollte, dass beim Lesen eine Art Rausch entsteht."
In ihrem neuen Roman "See der Schöpfung" setzt die US-amerikanische Bestsellerautorin Rachel Kushner eine gescheiterte FBI-Agentin auf eine Gruppe von Umweltaktivisten an. Die Spionin Sadie Smith soll in Südfrankreich die linke Kommune der Moulinarden unterwandern, die im Verdacht stehen, Anschläge verübt zu haben. Doch je näher Sadie den Aktivisten und dem Vordenker der Gruppe Bruno Lacombe kommt, desto mehr stellt sich die Frage, wer unterwandert hier wen? Literaturagentin Marie Kaiser hat Rachel Kushner zum Interview getroffen.
Marie Kaiser: Wir müssen über Ihre Erzählerin sprechen, über Sadie Smith. Diese gescheiterte Geheimdienstagentin ohne jeden moralischen Kompass. Wie haben Sie zu dieser Erzählerin gefunden? Und warum ist sie die Richtige, um diese Geschichte zu erzählen?
Rachel Kushner: Es hat eine Weile gedauert, bis ich auf die Idee mit der Erzählerin gekommen bin. Ich selbst habe in den frühen 2000er Jahren mitbekommen, wie die Polizei Gruppen von linken Aktivisten mit Undercover-Agenten unterwandert hat. Es gab damals eine FBI-Agentin in Kalifornien, die einen Aktivisten in die Falle gelockt hatte. Ein junger Mann, der mit einigen Leuten befreundet war, die ich kenne. Er wurde zu 21 Jahren im Bundesgefängnis verurteilt, von denen er jedoch nur neun Jahre absitzen musste. Denn dann konnte sein Anwalt beweisen, dass diese Agentin ihn in die Falle gelockt hatte. Damals habe ich mich gefragt, was für ein Mensch sich wohl dabei fühlt, das Leben anderer Menschen zu zerstören und das nicht einmal aus politischen oder ideologischen Gründen. Sie selbst war eine Art "Agent Provocateur. Denn die Agentin selbst hat den Aktivisten zu politischer Gewalt angestiftet. Und in gewisser Weise war diese Erzählerin Sadie meine Antwort auf die Frage, was für ein Mensch jemand sein muss, der sich auf so etwas einlässt. Es war ziemlich lustig für mich mit dieser Erzählerin zu arbeiten, die keinerlei Moral besitzt und keinen der Werte teilt, die mir selbst wichtig sind. Die sich aber im Laufe des Romans verändert - hin zu einer Form der Unschuld. Aber Sadie Smith ist nur eine von zwei Hauptfiguren in meinem Buch. Für mich ist Bruno Lacombe eher das Herzstück des Buches, auch wenn er nur durch Sadies Bericht zu Wort kommt, nachdem sie sich in sein E-Mail-Konto gehackt hat.
MK: Über den Vordenker der Moulinarden, Bruno Lacombe, werden wir noch ausführlicher sprechen. Aber ich finde es interessant, dass die Figur der Sadie auf einer wahren Geschichte beruht, die sich im Buch wiederfindet. Denn Sadie tut im Roman genau das - sie ist ein "Agent Provocateur" und manipuliert einen sehr jungen Mann und stiftet ihn dazu an einen Anschlag zu planen.
RK: Ja, diese wahre Begebenheit ist so etwas wie der Gründungsmythos für diese Figur. Sadie ist eine in Ungnade gefallene ehemalige FBI-Agentin, die sehr wütend ist, dass sie vom FBI gefeuert wurde, nachdem das Urteil gegen den Aktivisten aufgehoben wurde. Denn es wird festgestellt, dass sie es war, die ihn manipuliert und verführt hat. Er hat sich in sie verliebt und sie hatte ihm versprochen, sich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen. Aber nur wenn er ihr beweist, dass er es mit dem Aktivismus ernst meint. Das hat er gemacht und 500 Pfund Nitratdünger gekauft, um eine Bombe zu bauen. Nachdem das Urteil gegen den Jungen aufgehoben wird, ist sie wütend auf ihn, weil sie ihren Job verloren hat, ohne sich zu fragen, ob er nicht stattdessen allen Grund hätte, auf sie wütend zu sein. Weil sie dafür gesorgt hat, dass er im Gefängnis gelandet ist.
MK: Wie war es für Sie eine Erzählerin zu haben, die so anders ist als sie selbst - die denkt, dass sie alle Fäden in der Hand hält, die keine Moral hat?
RK: Es war wichtig, den richtigen Tonfall für sie zu finden. Sie sollte lustig sein, ein bisschen unerträglich auch. Denn sie ist diese unmoralische, sehr oberflächliche und unsensible Person. Über italienischen Wein sagt sie abfällig, das ist Wein aus dem Tetrapak. Übers italienische Essen sagt sie: Das schmeckt alles gleich. Dieses Nudelzeug besteht nur aus zwei Zutaten: Mehl und Wasser. Um ehrlich zu sein, hat es mir viel Spaß gemacht, über sie zu schreiben. Ich konnte sie so anlegen, dass sie fast in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von mir selbst ist. Wenn Sie einen Raum betritt, dann analysiert sie andere Menschen mit kaltem Blick und freut sich Schwächen bei ihnen zu entdecken. Denn das gibt ihr dann grünes Licht, sie zu manipulieren. Ich bin überhaupt nicht so!
MK: Sadie Smith, die gescheiterte CIA-Spionin versucht eine Untergrundbewegung in Frankreich zu unterwandern: Die Moulinarden eine Bewegung von linken Umweltaktivisten, die sie frei erfunden haben. Die Moulinarden sind aber inspiriert von einer echten Aktivistengruppe - dem "Comité invisible" („Unsichtbares Komitee“) in Frankreich. Einigen Mitgliedern wurde vorgeworfen, dass sie Sabotageaktionen gegen den Hochgeschwindigkeitszug TGV verübt hätten. Doch sie wurden letztlich frei gesprochen. Warum haben Sie ausgerechnet diese Bewegung als Inspiration verwendet?
RK: Das war nur eine Bewegung unter vielen, die mich inspiriert hat. Eine andere war zum Beispiel die "Zone à défendre" - die "zu verteidigende Zone" in Notre-Dame-des-Landes in der Normandie. Dort haben sich Aktivisten mit Landbewohnern zusammengeschlossen und Land besetzt haben, um den Bau eines Flughafens zu verhindern. Dass Aktivisten die Stadt verlassen und aufs Land ziehen, das hat in Frankreich eine lange Tradition. "Das unsichtbare Komitee" hatte sich im Dorf Tarnac im Süden Frankreichs niedergelassen und ich habe zufälligerweise Ende 2008 miterlebt, wie die Polizei dort eine Razzia durchgeführt hat. Für viele Linke war das ein historischer Moment, weil plötzlich bewaffnete Männer mit Sturmhauben auftauchten und viele Aktivisten verhaftet wurden, die teilweise weinende Babys auf dem Arm hatten. Und der einzige Beweise den die Polizei gegen das "Unsichtbare Komitee" hatte, war das Buch "Der kommende Aufstand", das sie geschrieben hatten. Der Prozess zog sich lange hin und endete mit einem Freispruch.
Ich selbst identifiziere mich selbst sehr stark mit dieser Idee, die Stadt zu verlassen und in der Gemeinschaft zu leben. Ich weiß auch, dass es dabei große Herausforderungen gibt und ich dachte mir immer: Das wäre ein gutes Umfeld, um einen Roman zu erzählen.
MK: Sie haben mir schon gesagt, dass der Vordenker ihrer Aktivisten im Roman für Sie eine besonders wichtige Rolle spielt. Dass Bruno Lacombe das Herzstück ihres Romans ist. Wir lernen ihn durch seine E-Mails kennen, denn die Erzählerin Sadie Smith spioniert seine E-Mails aus und liest diese mit. Er lehnt die Zivilisation als Ganzes ab und ist davon überzeugt ist, dass die Neanderthaler vielleicht besser mit dieser Erde umgegangen wären als der Homo Sapiens. Was bedeutet Ihnen die Figur des Bruno Lacombe?
RK: Bruno ist Franzose, so um die 80 Jahre alt und ein Mentor für die Moulinarden. Er lebt in einer unterirdischen Höhle und ist der Zivilisation gegenüber extrem kritisch eingestellt. Bruno sucht in der tiefen Vergangenheit der Menschengeschichte nach Hinweisen, wie man die Gesellschaft weg vom Kapitalismus verändern könnte. Normalerweise setzt Kapitalismuskritik ja immer am Beginn der landwirtschaftlichen Revolution an, als dem entscheidenden historischen Moment, in dem wir einen falschen Weg eingeschlagen haben. Bruno geht stattdessen in die Zeit vor 38.000 Jahren zurück und zeichnet ein romantisches Bild: Er hat die Vorstellung, dass die Neandertaler damals als bessere Menschen lebten. In kleinen Clans als frei denkende, bescheidene Erdbewohner. Und dann kam der Homo Sapiens und hat alles kaputt gemacht in Europa mit seiner "Wachstum um jeden Preis"-Mentalität - wie Bruno es ausdrückt,. Das hat auch was Komisch-Verklärendes, den Neandertaler als den schönen Verlierer der Geschichte zu betrachten. Im Lauf des Romans beginnt Bruno dann immer mehr seine eigenen Erzählungen zu hinterfragen.
Was mich an dieser Figur des Bruno wirklich bewegt hat, ist, dass er selbst seine ganze Familie im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Dann sehr geprägt wurde von der Linken und dem Mai 1968. Er ist aufs Land gezogen und wollte gemeinsam mit den Bauern eine alternative Gesellschaftsform erschaffen. Das ist aber gescheitert. Und der Roman spielt im Jahr 2013 - Bruno ist jetzt an einem Punkt angelangt, an dem er sicher ist, dass es nicht möglich ist den Kapitalismus abzuschaffen. Die Büchse der Pandora ist geöffnet und der Kapitalismus wird in der Welt bleiben. Aber Bruno ist deswegen nicht hoffnungslos. Er glaubt daran, dass die Revolution in unserem Bewusstsein stattfinden kann. Dass wir diese kapitalistische Welt verlassen können, während wir in ihr bleiben, wie er es ausdrückt. Ich fand das interessant. Er beschreibt unser Dilemma heute so: Gegenwärtig steuern wir in einem funkelnden, führerlosen Wagen auf die Auslöschung zu, und die Frage ist: Wie steigen wir aus diesem Auto aus? Leider glaube ich, dass seine Beschreibung zutrifft. Ich kenne die Antwort auf diese Frage nicht, aber es hat mir Spaß gemacht, mich in die Gedanken von jemandem hineinzuversetzen, der versucht, einen Ausweg aus dem glänzenden fahrerlosen Auto zu finden, das auf die Auslöschung zusteuert.
MK: Sadie Smith gelingt es nach und nach die Moulinarden zu unterwandern, aber gleichzeitig wird auch sie in gewisser Weise unterwandert. Sie gerät immer mehr in den Bann von Bruno Lacombe und seinen Ideen. Was hat Sie an dieser doppelten Unterwanderung interessiert?
RK: Diese Sadie kann ja mit der Zeit ein wenig unerträglich werden - beim Lesen und beim Schreiben. Für mich als Autorin bestand deshalb ein Teil des Vergnügens darin, auch immer wieder Pausen von Sadie einzulegen und Bruno zu Wort kommen zu lassen, für den die Welt voller Bedeutung ist. Deswegen wechseln sich immer Kapitel von Sadie mit Brunos E-Mails ab. Meine Idee war, dass Sadie durchs Mitlesen seiner E-Mails eine gewisse Nähe zu Bruno entwickelt. Diese Mails verändern sie nach und nach. Diese Frau, die sich nacheigener Aussage überhaupt nicht für die Natur interessiert, beginnt die Landschaft dort in Südfrankreich plötzlich anders wahrzunehmen - durch die Augen von Bruno. Es ist, als ob er ihr das Sehen beibringen würde. Mich hat es beim Schreiben gereizt, herauszufinden in diesen sehr kurzen Kapiteln des Romans, welche Wirkung Bruno auf Sadie hat. Sie beginnt nachzudenken und kritisiert die Moulinarden am Ende sogar dafür dass sie den Respekt vor Bruno und seinen Ideen verloren haben und ihn für eine Art Verrückten halten. Sie ist sozusagen Brunos treueste Schülerin geworden.
MK: Sie haben gerade schon angesprochen, dass der Roman in viele sehr kurze Kapitel unterteilt ist, was ihm einen schnellen Erzähl-Rhythmus verleiht. Was war Ihre Idee dahinter?
RK: Danke, dass Sie danach fragen! Das war wirklich eine ganz bewusste Entscheidung. Meine Romane waren bisher immer in lange Kapitel unterteilt von etwa 30 Seiten. Wenn man also zehn 30-Seiten-Kapitel hat, dann entsteht dadurch ein bestimmtes Erzähltempo. Bei "See der Schöpfung" wollte ich etwas anderes ausprobieren. Einen Roman mit sehr kurzen Kapiteln, so dass der Leser gewissermaßen ganz schnell von einem Kapitel gleich ins nächste Kapitel stolpert. Ich war einfach neugierig, ob es funktionieren würde, Kapitel zu haben, die nur zwei oder drei Seiten lang sind. Und das hat Spaß gemacht. Aber natürlich habe ich damit auch darauf reagiert, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne heute immer kürzer wird, weil wir ständig unterbrochen werden. Ich wollte, dass die Leute beim Lesen in einen Sog geraten, so dass sie keine Zeit haben, abzuschweifen und zum Beispiel auf ihr Handy zu schauen. Ich wollte, dass beim Lesen eine Art Rausch entsteht.
MK: Ohne zu viel über das Ende des Romans zu verraten: Sie haben sich gegen eine moralisierende Strafe für die Betrügerin Sadie entschieden - warum? Und Stand das Ende für Sie von Anfang an fest?
RK: Nein! Anfangs dacht ich, Sadie ist so unverschämt, dass die Moulinarden sie am Ende des Buches in die Falle locken werden und sie ein sehr düsteres Ende bekommt. Aber dann wurde mir klar, dass das wieder nur eine Rachegeschichte wäre. Rache ist nie so befriedigend, wie wir sie uns vorstellen. Es wäre auch sehr moralisierend gewesen, das so zu schreiben und auch eine Strafe für die Leser. Die 400 Seiten mit dieser Frau verbringen müssen, ohne dass ich ihr die Möglichkeit gebe, sich zu verändern. Ich möchte nicht zu viel verraten, aber das Ende, das ich mir ausgedacht habe, hat mir beim Schreiben sehr viel Spaß gemacht. Wenn ich es zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass am Ende jeder mit allem davonkommt.
Rachel Kushners Roman "See der Schöpfung" wurde übersetzt von Bettina Abarbanell und ist im Rowohlt Verlag erschienen, 480 Seiten, 26 Euro.