Interview - Chloe Dalton: "Sie hat diese unglaubliche Ruhe in mein Leben gebracht"

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"Ihr stilles Verhalten, ihre Wachsamkeit und ihr ausgezeichnetes Gehör, gepaart mit ihrer unheimlichen Geschwindigkeit und der Fähigkeit, Jägern zu entkommen, verleihen ihnen einen Anschein von Übernatürlichkeit. Sie sind stille Tiere, klagen jedoch laut, bevor sie einer Verletzung erliegen". Zu der englischen Politikberaterin Chloe Dalton kam ein gerade geborener Hase mitten im Winter, als von der Mutter verlassener Findling. In Ihrem Buch "Hase und ich" erzählt Sie, wie ihr das schier unmögliche gelang: einen Wildhasen großzuziehen.

Die Literaturagenten sprachen in der Woche vor Ostern mit Chloe Dalton über ihre - so der Untertitel - "außergewöhnliche Begegnung".

Thomas Böhm: Chloe Dalton, in ihr Buch ist viel selbst gesammeltes Wissen eingeflossen. Aber auch Wissen, dass Sie durch Lektüre gewonnen haben. Deshalb können Sie es sicher einschätzen: Wie selten ist das, was Sie in Ihrem Buch beschreiben: Die Aufzucht eines gefundenen Feldhasen?

Chloe Dalton: Ich wollte klar machen, dass ich natürlich nicht die Erste bin, die ein Hasenbaby großgezogen oder gepflegt hat. Viele haben das schon erlebt. Vielleicht sogar einige Hörer Ihrer Sendung, die in Tierheimen arbeiten, auf dem Land leben oder Tierärzte sind. Das Ungewöhnliche an meiner Erfahrung ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass ich die Möglichkeit hatte, in gewisser Weise in Freiheit mit dem Tier zu leben, da ich das Hasenbaby nie eingesperrt hatte. Es konnte kommen und gehen, wie es wollte. Ich denke, das ist ziemlich selten. Die Vorstellung, dass ein Tier, das nicht domestiziert ist, also kein Haustier, nachts durch die Felder streift und tagsüber zurückkehrt, um neben einem Menschen zu schlafen, dem es vertraut.

Das Tier lag neben mit, während ich schrieb. Wenn ich also die Farbe der Schnurrhaare beschreiben wollte, betrachtete ich sie aus nächster Nähe. Das war ein unglaubliches Privileg. Es fühlte sich auch magisch an. Es verlieh dem gesamten Erlebnis, das Buch zu schreiben, etwas Verzaubertes."

Chloe Dalton

TB: Was Ihr Fund Ihnen ermöglicht, ist zunächst einmal, dass Sie sich den kleinen Feldhasen genau anschauen können. Es war, genauer gesagt: Eine Häsin. Sie konnten ihr viel näher kommen, als das die allermeisten Menschen je tun werden. Was sieht man aus der Nähe, was man aus der Ferne nie sehen wird? Und was auch zB Foto nicht abbilden können?

CD: Man kann die Farben ihres Fells in all ihren außergewöhnlichen Details erkennen. Es ist nicht einfach nur braun. Die Farbe variiert von rotbraun und goldfarben über sehr, sehr blasses Creme und Weiß, zur Farbe kühler Asche. Und all das verändert sich das ganze Jahr über. Das Tier lag neben mit, während ich schrieb. Wenn ich also die Farbe der Schnurrhaare beschreiben wollte, betrachtete ich sie aus nächster Nähe. Das war ein unglaubliches Privileg. Es fühlte sich auch magisch an. Es verlieh dem gesamten Erlebnis, das Buch zu schreiben, etwas Verzaubertes. Natürlich gibt es viele wunderbare Naturfotografen, die Hasen in freier Wildbahn fotografieren, aber ich konnte ihm buchstäblich so nahekommen, dass ich die Schattierungen seiner Schnurrhaare und das feine Fell seiner Ohren erkennen konnte.

Das Überleben der Hasen hat etwas Erstaunliches: Dass sie sich trotz aller Beeinträchtigung durch moderne Agrarwirtschaft in unserer Landschaft halten konnten – denn anders als Kaninchen leben Hasen ihr ganzes Leben lang oberirdisch und haben keinen Ausweg. Ihr Überleben bis in die heutige Zeit ist daher ein Wunder. Und ihr Wesen hat etwas sehr Bewegendes und Berührendes."

Chloe Dalton

TB: Wir sind in einer Büchersendung, deshalb können wir nachvollziehen, dass – als Sie kaum Rat für die Aufzucht von Feldhasen im Internet gefunden haben – Sie zu Büchern griffen. Und da wurden Sie vor allem n in den Büchern von Jägern fündig. Von Plinius stammt sogar der Satz: "Der Hase, zur allgemeinen Beute geboren…" Was sagt das über die Beziehung des Menschen zum Hasen aus?

CD: Es stimmt, dass einige der schönsten Berichte über das Verhalten und die Natur von Hasen – paradoxerweise – von Menschen verfasst wurden, die sie jagten. Was mir in diesen Büchern auffiel, war eine sehr seltsame Mischung aus Jagdfreude, aber auch Mitleid und Trauer über die Tötung eines so schönen Tieres. Und ich glaube, den Jägern fiel die außergewöhnliche Athletik der Hasen auf, die Tatsache, dass sie so oft entkommen konnten. Und das tun sie auch heute noch – durch eine Kombination von Fähigkeiten, die sie sich über Jahrtausende der Verfolgung durch den Menschen angeeignet haben.

In Großbritannien haben Hasen das Pech, das schnellste Landtier zu sein, das wir haben. Das bedeutet, dass die Menschen sie schon immer als Zielscheibe auserkoren haben. Um einen gewissen Nervenkitzel zu erleben und zu zeigen, wie schnell ihre Hunde rennen können. Das Überleben der Hasen hat etwas Erstaunliches: Dass sie sich trotz aller Beeinträchtigung durch moderne Agrarwirtschaft in unserer Landschaft halten konnten – denn anders als Kaninchen leben Hasen ihr ganzes Leben lang oberirdisch und haben keinen Ausweg. Ihr Überleben bis in die heutige Zeit ist daher ein Wunder. Und ihr Wesen hat etwas sehr Bewegendes und Berührendes.

TB: Wirklich guten Rat fanden Sie bei einem William Cowper, dem im Jahr 1774 offensichtlich drei von Nachbarkindern geschenkte Hasen halfen, eine Depression zu überwinden. Cowper schrieb darüber, wie man Hasen ernähren kann, in einem Gedicht. Und liest man dieses Gedicht, dann handelt es eigentlich nur davon, wie und was sein Hase names "Tiney" gefressen hat. Warum ist das poetisch?

CD: Ich fand Cowpers Gedichte sehr bewegend, weil er die Hasen, die er besaß, offensichtlich liebte. Berührt hat mich insbesondere John Coopers Gedicht, dass er nach dem Tod eines dieser Hasen schreib. Und dabei auch über seine Abscheu vor der Jagd schreibt. Und er findet in diesem Gedicht etwas Trost darin, dass dieser Hase zumindest vor dieser Art von Verfolgung sicher war. Obwohl ich natürlich hinzufügen sollte, dass es zu verschiedenen Zeiten gute Gründe dafür gab, dass die Menschen Hasen aßen. Sie waren eine wichtige Fleisch- und Nahrungsquelle für Familien, insbesondere in Zeiten der Nahrungsmittelknappheit.

Shakespeare schrieb unter anderem darüber, dass Hasen feige, verrückte Wesen seien. Das kommt von der Beobachtung der boxenden Hasen im März, während der Paarungszeit. Aber es sind gar nicht zwei Männchen, die boxen, sondern Häsinnen, die Männchen abwehren, wenn sie nicht paarungsbereit sind."

Chloe Dalton

TB: Sie schreiben auch darüber, dass den Hasen über Jahrhunderte "gute und schlechte Eigenschaften" angedichtet wurden. Da sie selbst so lange genau einen Hasen beobachtet haben – welche dieser angedichteten Eigenschaften können Sie verstehen? Welche sind vollkommen absurd?

CD: Nun, einige meiner Beobachtungen widersprachen dem, was ich über Hasen in Büchern gefunden hatte. Da stand zum Beispiel, dass Hasen ihre Augen nicht zum Schlafen schließen. In einem Buch stand, dass Hasen kein Wasser trinken.
Die Häsin, die bei mir lebte, schloss die Augen zum Schlafen und wenn Wasser verfügbar war, trank sie große Mengen davon.

Und dann gibt es eben diesen Aberglauben, dass Hasen oft als Hexentiere angesehen werden. Frauen sollten sich angeblich in Hasen verwandeln, um die Gebote des Teufels auszuführen und solche Dinge. Solche magischen Vorstellungen gibt es vielen verschiedenen Kulturen. Und es gibt Zuschreibungen, die haften bleiben: Shakespeare schrieb unter anderem darüber, dass Hasen feige, verrückte Wesen seien. Das kommt von der Beobachtung der boxenden Hasen im März, während der Paarungszeit. Aber es sind gar nicht zwei Männchen, die boxen, sondern Häsinnen, die Männchen abwehren, wenn sie nicht paarungsbereit sind.

Ich könnte also noch lange so weitermachen, denn fast alles, was ich über Hasen gelesen habe, ist übertrieben oder in irgendeiner Weise falsch. Hasen sind weit davon entfernt, verrückt zu sein. Es sind wunderschöne, würdevolle, geheimnisvolle Wesen, die, wie gesagt, trotz fast aller Widrigkeiten an ihrer Existenz festhalten.

Und so wurde mir durch die Häsin klar, dass ich ein Tier bin – wir sind alle Tiere, wir sind Teil der Natur und wir leiden, wenn wir von der Natur getrennt sind. Und dass die Natur in jeder Lebensphase auf uns wartet. Wenn wir uns aufmachen, sie zu finden, ist sie da. Das ist sehr verzeihend und sehr tröstend."

Chloe Dalton

TB: Ein zentraler Satz des Buches fällt für mich in einer Szene, da ist die Häsin gerade wenige Woche at. Sie sitzen auf den Steinstufen vor Ihrem Haus, beobachteten die Häsin und hören den Lerchen zu, die mit ihrem Gesang die Landschaft erfüllen. Dann heißt es: "Und ich war ein Teil davon." Was enthält dieser Satz für Sie?

CD: Das Leben mit dem Hasen hat mir bewusst gemacht, dass ich in meinem früheren Leben, vor der Pandemie, bevor mich der Lockdown aufs Land brachte und diese Erfahrung ermöglichte, sehr weit von der Natur entfernt war, vielleicht sogar extrem im Vergleich zu vielen Ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer.

In meinem Buch schreibe ich darüber, dass ich den Wechsel der Jahreszeiten kaum wahrnahm, weil mein Leben so urban und international war. Und mir ist klar geworden, dass ich, obwohl ich mein Leben und meinen Job absolut liebte und nichts daran ändern wollte, in mancher Hinsicht von der Natur entfremdet, von ihr getrennt war, dass es Aspekte in meinem Leben gab, die in mancher Hinsicht sehr unnatürlich waren, obwohl sie sehr erfüllend und aufregend waren. Und so wurde mir durch die Häsin klar, dass ich ein Tier bin – wir sind alle Tiere, wir sind Teil der Natur und wir leiden, wenn wir von der Natur getrennt sind. Und dass die Natur in jeder Lebensphase auf uns wartet. Wenn wir uns aufmachen, sie zu finden, ist sie da. Das ist sehr verzeihend und sehr tröstend.

Ich glaube, in dem Moment, den Sie zitieren, hatte ich einfach dieses Gefühl der Einheit und des Teilseins mit der Natur und empfand unglaubliche Dankbarkeit gegenüber der Häsin für diese Eingebung, die mir vielleicht ohne sie nie oder erst viel später in meinem Leben zuteilgeworden wäre.

TB: Wo wir gerade beim Vogelgesang waren. Sie beschreiben "zarte Laute", die die Häsin von sich gab. Laute, von denen Sie überhaupt nichts in der Literatur über Hasen gelesen haben. Was war denn ihr wichtigstes Mittel, um mit der Häsin zu kommunizieren?

CD: Meine wichtigste Kommunikationsmethode mit der Häsin war, sie zu beobachten, ihr Raum zu geben, sie nicht zu stören. Ich bin mir also nicht sicher, ob ich sagen kann, dass sie mit mir kommuniziert hat, außer durch ihre Anwesenheit. Indem sie sich mir näherte, sich in meiner Gegenwart sicher genug fühlte, um zu schlafen. Und dann eben durch dieses ganz und gar außergewöhnliche Ereignis, das mich dazu brachte, das Buch zu schreiben: Als die Häsin zwei Jahre alt war, brachte sie Junge zur Welt. In meinem Bürozimmer, hinter einem Vorhang. Ihr Vertrauen in die Sicherheit dieses Ortes wurde mir durch ihre Entscheidung zur Geburt deutlich.

Zu den Geräuschen: Für die habe noch keine Erklärung gefunden. Vielleicht hat jemand, der zuhört, eine. Schreiben Sie mir einfach. Manchmal sagen Menschen, die Kaninchen als Haustiere halten, dass sie Ähnliches gehört haben. Aber ich beschreibe in dem Buch die verschiedenen Geräusche, die sie im Laufe ihres Lebens macht, in verschiedenen Lebensabschnitten. Sie alle haben mich sehr beeindruckt, denn Hasen sind die meiste Zeit völlig stumm. Deshalb habe ich bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen die Häsin ein kleines Geräusch machte, sehr darauf geachtet.

Das ist vielleicht das größte Geschenk, das mir die Häsin gemacht hat: Sie hat diese unglaubliche Ruhe in mein Leben gebracht, das vorher – wie wahrscheinlich bei vielen Menschen die zuhören – laut, hektisch, chaotisch und voller Telefone, Computer, Anrufe, Musik war. Und weil ich meine Gewohnheiten an dieses wilde Tier anpassen musste, habe ich vieles aufgegeben."

Cloe Dalton

TB: Ihr Buch zu lesen ist eine herrliche Entschleunigung. Es gibt aber auch durchaus Momente der Spannung – die immer mit der Frage verbunden sind: kommt die Häsin zurück? Ganz zum Schluss findet sich der Satz: "Die friedliche Atmosphäre, die sie im Haus verbreitet hat, wird auch dann noch bleiben, wenn sie längst fort ist." Warum?

CD: Das ist vielleicht das größte Geschenk, das mir die Häsin gemacht hat: Sie hat diese unglaubliche Ruhe in mein Leben gebracht, das vorher – wie wahrscheinlich bei vielen Menschen die zuhören – laut, hektisch, chaotisch und voller Telefone, Computer, Anrufe, Musik war. Und weil ich meine Gewohnheiten an dieses wilde Tier anpassen musste, habe ich vieles aufgegeben. Zum Beispiel habe ich aufgehört, nachts das Licht anzumachen, außer wenn es ganz dunkel war. Weil ich die Nachtsicht der Häsin nicht beeinträchtigen wollte. Ich habe vorhin gesagt, dass ich sie lange beobachtete. In diesen Momenten konnte ich fast spüren, wie mein Herzschlag langsamer wurde und Ruhe über mich kam.

Das ganze Wesen der Häsin schien mir von Ruhe geprägt zu sein, und diese Ruhe hat sie im ganzen Haus verbreitet. Und das Haus ist nun voll von Erinnerungen an ihre Anwesenheit, zum Beispiel diese leichte Vertiefung im Teppich, die sie hinterlassen hat. Und ich hoffe, dass dies die Leser aus dem Buch mitnehmen, dass auch sie beim Öffnen der Seiten diese Art von Magie spüren können, die von der Präsenz der Häsin ausgeht.

Wissen Sie, wir hören ständig zu Recht so viele Geschichten über die Schäden, die wir der Umwelt zufügen. Aber die kleinen, leisen Geschichten, die uns Hoffnung geben können, sind selten. Und obwohl vielleicht nicht jeder die Erfahrung machen kann, die ich gemacht habe, denke ich, dass wir alle im Laufe unseres Lebens hoffen können, ein besseres Gleichgewicht zwischen Mensch und Wildnis zu finden. Die verbleibende Wildnis spiegelt meiner Meinung nach einen Teil von uns wider und spricht ihn an, diesen kleinen Kern der Wildnis, der tief in unseren Herzen verborgen ist. Wenn Leser das Buch also zur Hand nehmen und sich der Natur, den wilden Tieren und dem Frieden näher fühlen, wäre ich sehr glücklich, denn genau so habe ich mich beim Schreiben des Buches gefühlt.

radioeins-Literaturagent Thomas Böhm führte das Interview am 17. April 2025

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