Die Literaturagenten - Nell Zink: "Berlin in der amerikanischen Literatur ist einfach so eine Art erweitertes Berghain"

Die amerikanische Autorin Nell Zink, die schon seit Langem im Brandenburgischen lebt, folgt in ihrem Roman "Sister Europe" ihren Figuren, die unaufhörlich über die Themen der Gegenwart reden, auf ihrer Reise ans andere Ende der Nacht. Die Literaturagenten Marie Kaiser und Thomas Böhm sprachen unter der Woche mit Nell Zink über ihren Berlin-Roman der ganz besonderen Art.
Dienstag, der 21. Februar 2023. Im Hotel Intercontinental wird ein Literaturpreis verliehen. Die Stifterin kommt nicht. Berlin im Winter ist ihr unerträglich. Der Architektur- und Kunstkritiker Demian, der mit dem Preisträger befreundet ist, fühlt sich verpflichtet, die absehbar schlecht besuchte Veranstaltung zu füllen. Und lädt Freunde ein. Die kommen auch. Sie werden bald mit Demians 15 -jährigem Sohn, der sich in der Verwandlung in eine Frau befindet, und dem arabisch-schweizerischen Sohn der Stifterin eine skurrile Gelegenheitsgesellschaft, die nach der Preisverleihung durch den Tiergarten zu einem Fast-Food-Restaurant spaziert.
Thomas Böhm: Nell Zink, allein schon die Eröffnungsszene des Buches hat es in sich. Demian, der in einer Villa im Grunewald lebt, erzählt seiner Tochter eine Gute Nacht-Geschichte. Die handelt vom Klimawandel - in völlig verharmlosender Form. Zwar werden die Küsten von einer gigantischen Welle überspült, aber in den Grunewald kommt nur eine ganz, ganz kleine Welle, die dann auch verebbt. Welchen Ton wollten Sie mit dieser Eröffnungsszene setzen?
Nell Zink: Das kennen wir doch alle. Die Welt geht unter, aber uns betrifft das nicht unbedingt.
TB: Und damit können Kinder gut einschlafen?
NZ: Also besser, als wenn man ihnen das Gegenteil erzählt. Und natürlich sind wir alle ein Stück weit vom inneren Kind abhängig. Und wollen es dem inneren Kind noch recht machen. Und versuchen uns selbst Tag und Nacht zu beruhigen. Wir erzählen uns selbst solche Gute-Nacht-Geschichten.
Marie Kaiser: Wir haben schon gehört. Die Handlung spielt in einem ganz begrenzten Zeitraum; ein einziger Abend und die darauffolgende Nacht. Warum so ein enger Rahmen? Und warum auch so ein konkreter Tag, der 21. Februar 2023.
NZ: Gut, ich wollte auf jeden Fall schlechtes Wetter haben. Das ist so ungefähr der Zeitpunkt, wo ich angefangen habe, das Buch zu schreiben. Und mir war damals schon klar, dass man heutzutage nicht mehr über die Zukunft schreiben kann. Wenn es Realismus sein soll, wenn es in unserer Welt angesiedelt ist, dann muss man entweder in die Vergangenheit schauen oder sagen, es geht um eine ganz bestimmte Zeit. Die Zukunft ist weggefallen. Wir haben gerade "no future". Man kann sich die Zukunft nicht mehr so genau denken.
MK: Und warum so ein enger Erzählerahmen? Also nicht mal 24 Stunden?
NZ: Mir hat es Spaß gemacht, das so zu schreiben. Also zu gucken, wie viel kann passieren. Wenn man nicht irgendwie so wie bei vielen Büchern die Zombie -Apokalypse mit reinschreibt oder so was. Wenn es einfach normale Menschen sind, die sich miteinander unterhalten und versuchen, sich ein bisschen darzustellen, wie man das so auf einer Party macht. Man will den anderen zuhören, aber man will auch, dass man von den anderen ein bisschen besser gekannt wird. Und dann ist das eine Gradwanderung zwischen Selbstdarstellung und Passivität.
TB: Was an diesen Figuren auffällt: Sie haben zu allem etwas zu sagen. Das fängt mit dem Klimawandel an. Ich zähle jetzt nicht alle weiteren Themen auf. Das ist allein schon deshalb unmöglich, weil sich die Themen in den Gesprächen unaufhörlich ändern. Es geht den Menschen offensichtlich nicht darum, miteinander zu sprechen, sich auf den anderen wirklich und dauerhaft einzuladen. Worum geht es diesen Menschen beim Reden?
NZ: Ich schreibe ja realistisch. Und so wie ich die Menschheit kenne, ist es nicht so, dass sie einander so genau zuhören. Es wird auch gerne mal doziert und aneinaner vorbeigeredet. Das kommt vor. Aber es geht nicht darum, in dem Buch diese misslungene Kommunikation satirisch darzustellen. Die Figuren wollen alle auf jeden Fall etwas Bestimmtes erreichen. Aber wegen dem Kontext kommen sie halt nicht dazu. Also z.B. Livia will ein ganz bestimmtes Gespräch führen mit Demian. Zu zweit. Und sie denkt, es wird dazu kommen im Laufe des Abends. Aber sie ist halt nie mit Demian alleine. Und solche Konflikte, die kennt man ja. Und dass die Leute zu allem eine Meinung haben. Ich kenne kaum noch Menschen, die keine persönliche Aussempolitik haben.
TB: Ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Ihr Buch vermeidet die Berlin-Klischees. Was ist denn an der Geschichte aus Ihrer Sicht typisch für Berlin?
NZ: Die Durchmischung der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Also dass da Menschen zusammenkommen auf einer Party, die wirklich aus verschiedenen Einkommensgruppen kommen. Da ist Berlin wirklich ein bisschen offener als die meisten Städte. Und in Deutschland sowieso.
TB: Nell Zink, Sie leben schon lange in Brandenburg, eben auch weil die bezahlbaren Mieten da überhaupt es ermöglichen, als freie Schriftstellerin zu überleben. Warum schreiben Sie erst jetzt Ihren ersten dezidierten Berlin-Roman?
NZ: Weil der Stoff sich mir präsentiert hat. Also das, was ich schreibe, das sind ja keine Auftragsarbeiten, sondern es ist einfach das, was ich machen will. Deswegen nennt man mich ja "freie" Schriftstellerin. Also mich hat halt beschäftigt, wie Berlin funktioniert und auch was für Sachen, vor allem in der amerikanischen Literatur, ganz falsch erzählt werden über Berlin. Und so ein komisches Image, das Berlin hat.
MK: Welches denn?
NZ: Also Berlin in der amerikanischen Literatur ist einfach so eine Art erweitertes Berghain.
MK: So eine Art Disneyland für Erwachsene, oder?
NZ: Ja, also wenn man in Disneyland ganz viele Drogen nehmen würde, dann hätte man Berlin. Nehmen Sie Radi, den Enkel der Preisstifterin. Er ist ja schwul und lebt in Montreux. Und wenn er nach Berlin kommt, dann hat er dafür auch die einschlägigen Gründe.
TB: Wir haben es bisher noch nicht angesprochen, aber es war deutlich zu hören: Ihr Buch ist geprägt von einem sardonischen, sehr speziellen Humor. An dieser Stelle muss Ihr Übersetzer Tobias Schnettler ausdrücklich gelobt werden, der diesen Humor grandios ins Deutsche bringt. Ein Humor, mit dem Sie diese ständig labermden, mehr oder minder ziellosen Figuren darstellen und die vor allen Dingen in die unmöglichsten Szenen bringen. Szenen, von denen man denkt: "Das wird hoffentlich nicht ausgeführt!" So droht die 15jährige Nicole beinahe von jenem arabisch -schweizerischen Mann namens Radi verführt zu werden. Was reizt Sie daran, solche Momente herzustellen, in denen die Lesenden denken: "Das soll bitte, gut ausgehen! Ich will nicht wissen, was sonst passiert."
NZ: Hat es Ihnen denn gar keinen Spaß gemacht?
TB: Es hat mir sehr großen Spaß gemacht, aber ich habe gedacht: "Bitte, bitte, Nell Zink, führen Sie das nicht weiter!"
NZ: Also wenn Sie meine anderen Bücher kennen, dann wissen Sie, ich bin Spezialistin für Happy Ends. Ich halte auch keine Spannung so besonders lange aus und ich will auch keine Figur quälen. Aber die Leser, die genießen das manchmal.
MK: Kommen wir mal zum Thema Märchen. Auf dem Cover der amerikanischen Ausgabe findet sich eine Märchenillustration. Und es gibt das Buch hindurch wirklich immer wieder Elemente, die an Märchen erinnern. Zum Beispiel Prinzen und Prinzessinnen. Es gibt eine Verwandlung. Am Schluss sind wir in einem Raum, in dem Teppiche übereinander liegen, wie die Matratzen im Märchen von der Prinzessin auf der Erbse. Was haben die Märchen in Ihrem Buch verloren?
NZ: Es gibt einen Aspekt des Orientalismus quasi. Radi ist ein "Prinz aus dem Morgenland". Das Buch fängt ja mit dem Märchen an über der Tsunami, der als kleine Welle im Grunewald ankommt. Und dann wird ein langes und breites Märchen erzählt bei einer gesellschaftlichen Zusammenkunft, wo alle sich irgendwie so fasziniert zu Tode langweilen. Das kommt immer sehr gut an: Also die Leute genießen diese Story und hinterher denken sie: "Was war jetzt das?" Und ich bin dieser Wirkung nicht abgeneigt. Wenn man das, was ich schreibe, auf Anhieb sofort verstehen würde, dann wäre es irgendwie weniger interessant, finde ich. Aber das Märchenerzählen oder das Erzählen überhaupt, das ist ein Hauptthema im Buch. Weil die erste Figur, die mir überhaupt eingefallen ist, das war die Avianca, diese junge Amerikanerin, die halt zwanghaft immer erzählt und vor allem Ausreden, wieso sie zu Verabredungen nicht kommt.
MK: Unsere letzte Frage, die bezieht sich auf den Titel. Der wird im Buch nicht erklärt. Wer oder was ist denn die "Sister Europe"?
NZ: Das ist unter anderem ein Lied von den Psychedelic Furs aus den 80ern. Aber ich denke, irgendwo ist das Olivia. Sie ist die europäischste Figur in dieser Gruppe, die wirklich in der Vergangenheit verwurzelt ist. Also tief im Märkischen Sand. Aber Wurzeln im Märkischen Sand zu haben, die kann man leicht abschütteln.
Nell Zink: "Sister Europe", dt. v. Tobias Schnettler. Erscheint am 13. Mai im Rowohlt Verlag. Die Buchpremiere findet statt am 21. Mai in der Georg Büchner Buchhandlung im Prenzlauer Berg.