„Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ ist Studioalbum Nummer vier der Band aus Köln um Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit. Seit ihrer Schulzeit befreundet, haben sie vor zehn Jahren mit einem selbst-aufgenommenen Live-Album die Aufmerksamt auf sich gezogen. Heute haben sie Millionen Fans, die ihnen zuhören. Zuletzt ging das Suzan-Vega-Cover „Tom’s Diner“ international viral, das AnnenMayKantereit gemeinsam mit den Giant Rooks aufgenommen hat, und in den USA den Song sogar wieder in die Charts beförderte.

In den 15 neuen Songs blickt die Band nun emphatisch auf das Empfinden ihres direkten Umfeldes: Wie leben wir eigentlich gerade? Womit haben wir zu kämpfen während die ganze Welt in ihren komplexen Krisen zu versinken scheint? Es geht dabei auch um die Flucht vor einem überfordernden Alltag, der bestimmt ist von den Debatten über das aktuelle komplexe politische Weltgeschehen. Wenn es Zeit ist, einfach mal abzuschalten, um vor Wut und Ohnmacht darüber nicht auszurasten oder zu verzweifeln. Gitarrist Christopher Annen beschreibt die Musik als Ventil, als Coping-Mechanismus, diese Flucht bewerkstelligen zu können: „Das sollte auch eine Musik sein, die einen nicht noch selbst da reinzieht, in so einen Abwärtsstrudel und die einfach [...] sagen konnte: ‚Ich denke da jetzt nicht dran, sondern ich spiele jetzt Gitarre.‘“

Es sind die Themen der Generation Y, die den Eindruck der Platte bestimmen. Die sogenannten Millenials, geboren zwischen Anfang der 80er und Ende der 90er Jahre – und zu denen auch AnnenMayKantereit gehören, haben theoretisch alle Optionen, müssten sie nur ergreifen. Doch trotz westlich bürgerlichem Wohlstand und hervorragender Ausbildung, sind es vor allem auch Unsicherheiten, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Diese bekommen heute, nach mehr als zwei Jahren Pandemie, noch einmal mehr Gewicht. „Ich weiß was ich kann“, singt Henning May in „3 Tage am Meer“, und unter anderem von den Zweifeln, wofür er „das alles“ eigentlich mache. Es ist diese Herausforderung, die auf „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ zu hören ist; die Herausforderung, Leistungsansprüche zu erfüllen, gesellschaftliche wie Eigenverantwortung zu übernehmen, und dabei gleichzeitig weder Freizeit noch Beziehungen aus dem Blick zu verlieren.

Laurina Schräder, radioeins