Gerichtstraße - Die Straße der Besten

Gerichtstraße - Straße der Besten
Gerichtstraße - Straße der Besten

Die Gerichtstraße im Wedding ist eine Straße der Gegensätze. Graue Sozialbauten existieren neben schicken Lofts. Hier prallt alles aufeinander – ein Clubraum der Hells Angels auf eine alteingesessene Keglerklause oder eine neue, hippe Kunst-Bar. Immer häufiger trifft der Ur-Weddinger in der Gerichtsstr. auf Zugezogene, Kreative, Künstler und Partyhungrige. Doch wer ist hier eigentlich wirklich zu Hause? Wer arbeitet und vor allem wohnt hier? Ein paar Gesichter aus der Gerichtstr. stellen wir Ihnen genauer vor…

Scott Bolden und Karen Wohlert

Scott Bolden und Karen Wohlert zogen 2013 in das Vorderhaus der Gerichtsstr. 23. Sie hatten vorher einige Jahre in diversen WG’s unter anderem im Friedrichshain gelebt und fanden dann in dem zwar grauen, aber dennoch imposanten Bau eine vergleichsweise günstige 140-Quadratmeter-Wohnung, in der sie gemeinsam eine neue WG einrichteten. Der studierte Ingenieur und Designer Scott aus New York und die Politikwissenschaftlerin Karen luden als erstes die Nachbarn aus dem Haus und der Straße zu Kennenlernabenden ein und stellten fest, dass viele noch nie ein Wort miteinander gesprochen hatten, obwohl sie teilweise schon viele Jahre hier lebten. Schnell wurde klar – es fehlte in der Straße ein Ort der Begegnung! Den fanden Scott und Karen dann im Erdgeschoss ihres Hauses. Ein Künstleratelier mit fast dem gleichen Schnitt wie ihre Wohnung, aber einer großen Säule mitten im Raum. Sofort sah Scott, der Erfahrung mit ähnlichen Projekten in Brooklyn gesammelt hatte, vor seinem geistigen Auge einen Baum dort wachsen und so entstand die Idee eines Indoor-Baumhauses. Dem Künstler verschafften sie ein anderes Atelier in der Straße und entwickelten dann ihre Idee von einem Ort für Weltverbesserer. Sie sammelten dafür bei Banken und per Crowdfunding Geld ein, begeisterten viele Freiwillige und hoffen, ihr Baumhaus 2017 eröffnen zu können.

Weitere Infos unter:
www.baumhausberlin.de
weddingweiser.wordpress.com
www.tagesspiegel.de

Jürgen Reichert

1982 bot man dem jungen Künstler Jürgen Reichert an, sich am Bau einer 10.000 Mark teuren Mauer zu beteiligen. Diese Mauer würde sein Atelier vom Nachbarn trennen. Er könne sich selbst Räume abteilen und dann den Wert des Einbaus mit einer sehr günstigen Miete wieder abwohnen.

Es waren die 80er Jahre in West-Berlin, der Wedding am Rande, Immobilien dort grenzwertig. Die riesigen, offenen Fabriketagen der Gerichtshöfe gähnten ihn an. Bedrohlich fanden das damals viele Künstler, aber Reichert schlug ein.

Die Wohnungsbaugesellschaft Gesobau schickte sich an, das Fabrikgebäude von 1912 mit seinen sechs Höfen in eines der größten Künstlerquartiere des Landes umzuwandeln.

Aufgang zwei, zweiter Stock. Hinter der mit einem Stangenschloss gesicherten Tür verbirgt sich das Atelier von Jürgen Reichert, der sein halbes Leben hier verbracht hat. Er hat das Atelier selbst eingebaut und den Wert wieder abgewohnt. Er hat hier seine Frau gefunden, seit 33 Jahren farbenfrohe Bilder gemalt, und er hat zu verhindern gesucht, dass „malende Hausfrauen“ als Künstler firmieren und die günstigen Ateliers beziehen. Hat er nicht diesen Ort geformt – und der Ort auch ihn?

Erfahrungsgesättigt, lockenbekränzt sitzt er in seinem Atelier Ulrike Hansen gegenüber, die hier auch schon seit 18 Jahren malt. Ab sieben Uhr früh, sagen sie beide, sirren die Sägen der Tischlerei ein Stockwerk unter ihnen. Sie sagen, ihr Werk sei nicht mehr zu trennen vom Keksgeruch der türkischen Bäckerei Tatlicilar sowie den Lebensäußerungen der Weddinger Bevölkerung, die die Vorderhäuser bewohnt.

2004 gründeten die Künstler den Verein „Kunst in den Gerichtshöfen“, der die Lange Nacht organisiert.

Die Verbindungen untereinander wurden enger. Hansen und Reichert wurden ein Paar, die Goldschmiedin von Aufgang Acht fertigte ihre Eheringe. Mal gingen sie zu einem Musikabend in den Räumen des Geigenbauers Kägi, dann erfanden sie die jährliche Nikolaus-Veranstaltung „Moderne Kunst zum Mitnehmen“.

Natürlich machen nicht immer alle mit, Künstler gehen ja erst einmal in sich, um dann etwas ganz Persönliches herauszuholen. Es ist nicht selbstverständlich, dass alle miteinander Kontakt pflegen. Es brauchte glatt eine Sonnenfinsternis, bis sie endlich einmal mit den Mitarbeitern von Tatlicilar, der türkischen Bäckerei, auf dem Hof ins Gespräch kamen, sagt Ulrike Hansen.

Hansen und Reichert sind schon Jahrzehnte Zeugen. 2013 musste die Berolina Siebdruckerei aufgeben. Drei Künstler sind gestorben. Ein Tangoloft zog ein und wieder aus. Aber die Karosseriewerkstatt, die ist noch in vollem Schwung. Und beim Schweizer Geigenbauer Kägi, da öffnet sich die Tür. Auch der gute Klang braucht ja eine Karosse.

Das Umschlossene eines Hofes suggeriert Schutz, doch das neue Jahrtausend ist schon 15 Jahre alt, und wo man in Berlin von Gewerbehöfen hört, ist die Vorstellung von Lofts nicht weit. Die Angst, dass ihre Mietverträge nicht verlängert werden, um irgendwann teuren Wohnungen Platz zu machen, durchläuft die Mieter in Wellen.

Quelle:
www.tagesspiegel.de

Stefan Klinkenberg

Der Berlinkenner, Jahrgang 1955,  wohnte als junger Mann 1981 – 89 in der Nähe der Gerichtsstr. und fertigte  damals seine Diplomarbeit über die „Wiesenburg“ an – einem spannenden Bau auf der anderen Seite der Panke, genau vis-à-vis zu den Gerichtshöfen 23, der u.a. mal ein Obdachlosenasyl beherbergte.

2008 dann eröffnete Klinkenberg ein Baugruppenprojekt für die Gerichtsstr. 17, auch dies einstmals eine städtische Herberge für Wohnungslose. Sogar die Garagen, die sich heute auf dem hinteren Grundstücksteil, der Gerichtstr. 17 befinden, kennt Klinkenberg noch aus seiner Wedding-Zeit: „Hier haben Freunde von mir an Autos und Motorrädern geschraubt", erinnert er sich.

Doch er hatte Schwierigkeiten, Leute für diese Baugruppe zu finden. Den jungen Familien war die Bevölkerung zu durchmischt, ihnen gefiel die Vorstellung nicht, ihre Kinder in Kitas und Schulen mit einem hohen Anteil an Migranten und Sozialschwachen geben zu müssen. Die Älteren hatten Angst vor den teils dunklen Gestalten, die die Straße nicht nur das Nachts bevölkern.

Doch für den Architekten und Projektentwickler ist das Bauvorhaben in der Gerichtstraße 17 etwas Besonderes.

Klinkenberg: „Ich finde, das Phänomenale an der Panke ist, dass sie eine grüne Verbindung von der Mitte bis hinein ins Umland herstellt. So eine Situation ist mir aus anderen Großstädten nicht bekannt."

Die Nähe zur Panke ist – neben der zentralen Lage und dem großen und ruhigen Gartengrundstück – das wesentliche Alleinstellungsmerkmal des Bauobjekts. Und dass die dort entstandenen Wohnungen natürlich für eine andere Klientel gebaut sind, als man sie bisher in der Gerichtsstr. antraf. Laut Klinkenberg kommen die Käufer eher aus dem Kollwitzplatz-Milieu und suchen hier das weniger Etablierte.

Quelle:
panke.info
www.umweltbank.de