Oh my God: It's a Radioday - die radioeins Götterdämmerung! - Glaube ohne Kirche: Religion verschwindet nicht, sie verändert sich

Ein kniender Mann betet mit Fragezeichen-Gedankenblase © imago/Ikon Images
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Immer weniger Menschen sind Mitglied in einer Kirche – doch das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie nicht mehr glauben. Der Glaube verändert sich, wird individueller und vielfältiger. Zwischen Yoga, Achtsamkeit, YouTube-Predigten und spirituellen Praktiken entsteht eine neue Form von Religiosität, die der Soziologe und Politikwissenschaftler Gert Pickel auf radioeins als "Bastel-Religion" bezeichnet.

Trotz sinkender Kirchenbindung bleibt bei vielen Menschen eine Sehnsucht nach Sinn, Halt und Transzendenz bestehen. Manche finden sie im Sport, in Gemeinschaftserlebnissen oder in spirituellen Praktiken – andere weiterhin in traditionellen religiösen Formen. Der Glaube wird zunehmend zu einer privaten, individuell gestalteten Angelegenheit.

Prof. Dr. Gert Pickel, Professor für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie, an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, und sein Team arbeiten mit groß angelegten Bevölkerungsumfragen. Dabei zeigt sich: Nur noch etwa 20 Prozent der Menschen in Deutschland glauben an einen personalen Gott im klassischen Sinn. Viele glauben eher an "etwas Höheres" – ohne es genau benennen zu können oder zu wollen.

Ostdeutschland: Ein Sonderfall der Säkularisierung

In Ostdeutschland verlief der Rückzug von Religion besonders schnell. Gründe dafür sind: die protestantische Tradition mit ihrer Betonung individueller Entscheidung, die sozialistische Religionspolitik mit Alternativangeboten wie der Jugendweihe sowie ein allgemeiner Modernisierungsschub, der Religion als überflüssig erscheinen ließ.

Nach der Wende verschwand auch die Rolle der Kirche als oppositioneller Ort. Viele, die aus politischen Gründen in der Kirche aktiv waren, zogen sich zurück. Gleichzeitig kamen neue Mitglieder hinzu, die sich zuvor nicht getraut hatten. Dennoch blieb ein religiöses Aufleben aus – die Kirchen unterschätzten die tiefgreifende Entfremdung vieler Ostdeutscher.

Bastel-Religion: Selbstgewählte Spiritualität

Der Begriff "Bastel-Religion" beschreibt eine Form von Religiosität, bei der sich Menschen aus verschiedenen Quellen das zusammenstellen, was ihnen persönlich hilft – etwa bei der Bewältigung von Krisen oder Schicksalsschlägen (Kontingenzbewältigung). Das kann klassische Religion sein, aber auch Yoga, Meditation oder Fußball.

Menschen entscheiden selbst, wie und ob sie religiös sein wollen. Das führt zu einer Pluralisierung: Neben traditionellen Kirchen existieren viele kleine Gemeinschaften, spirituelle Gruppen und individuelle Glaubensformen – oft ohne feste Zugehörigkeit.