Album der Woche - "My Back Was A Bridge For You To Cross" von ANOHNI And The Johnsons

My Back Was A Bridge For You To Cross von ANOHNI And The Johnsons
My Back Was A Bridge For You To Cross von ANOHNI And The Johnsons | © Rough Trade

Das Albumcover ist eine posthume Verneigung vor Marsha P. Johnson und dem Fotografen Alvin Baltrop. Das neue Album jedoch geht gedanklich über Marshas und Alvins Erbe hinaus. Vielmehr geht es um das Erbe, um eine Ahnenschaft im Allgemeinen. Um etwas Fortlaufendes und darum, dass wir aus einer Summe von Einflüssen heraus agieren. Sie glaube nicht an das einsame Genie, an das Narrativ eines individuellen Genies, meint Anohni. "Diese Vorstellung von einzigartiger Innovation, die sich irgendwie von der Kultur oder der Vergangenheit, aus der sie schöpft, abkoppelt, ergibt für mich keinen Sinn."

"My Back Was A Bridge For You To Cross" heißt das neue Album der britischen Künstlerin ANOHNI. "Mein Rücken war eine Brücke, die du überqueren konntest" deutet an, dass Anohni sich ihrer Vorreiterrolle in der Einforderung für Offenheit und Diversität bewusst ist. Natürlich aber ist sie sich auch der Rolle vieler, die vor ihr kamen, bewusst, von deren Aufbegehren Anohni selbst wiederum profitiert hat. Nicht zuletzt ist die Menschenrechtsaktivistin Marsha P. Johnson gemeint, deren Porträt das Albumcover schmückt. Fotografiert in den 70igern von Alvin Baltrop, dem queeren Fotografen, der vor allem die Protagonisten an den Pieren New Yorks, der "Cruising Szene" und der der Stonewall-Unruhen fotografierte. Das Cover ist eine posthume Verneigung vor beiden. Letztlich fand ja Marsha schon ziemlich früh in der Karriere von Anohni, die als Antony Hegarty geboren wurde, ihre Ehrung im Künstlernamen. Erst in "Antony & The Johnsons", nun "Anohni & The Johnsons". Das neue Album jedoch geht gedanklich über Marshas und Alvins Erbe hinaus. Vielmehr geht es um das Erbe, um eine Ahnenschaft im Allgemeinen. Um etwas Fortlaufendes und darum, dass wir aus einer Summe von Einflüssen heraus agieren. Sie glaube nicht an das einsame Genie, an das Narrativ eines individuellen Genies, meint Anohni. "Diese Vorstellung von einzigartiger Innovation, die sich irgendwie von der Kultur oder der Vergangenheit, aus der sie schöpft, abkoppelt, ergibt für mich keinen Sinn."


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Gleich die erste Single "It Must Change" scheint zumindest inhaltlich an das letzte Album "Hopelessness" (2016) anzuschließen, auf dem sie eindringlich den Krisen der Welt ein musikalisches Gewand gab. Ein musikalisches Gewand, dass ein Abgesang auf die Erwartungen all jener war, die Anohnis Songs bis dahin als beruhigend empfanden. So viel zum Vorgängeralbum. Mit "It must change" – "Die Dinge müssen sich ändern" beginnt die neue Platte und Anohni sagt: "Ich habe viel über 'What's Going On' von Marvin Gaye nachgedacht. Das war ein wirklich wichtiger Fixpunkt." Ein Fixpunkt "wie man eine gefühlvolle, politische Platte machen kann. Einige dieser Songs sind eine Antwort auf globale und ökologische Anliegen, die erstmals vor über 50 Jahren in der Popmusik zum Ausdruck kamen."

Anohnis Weltbild prägt die Songs auf ihrem neuen Album. Es ist ihr persönlicher Kommentar zu dem Verlust geliebter Personen, Ungerechtigkeiten, Entfremdung, Akzeptanz, Grausamkeit, Umweltzerstörung, Verwüstungen, die durch die Abrahamitische Religionen angerichtet wurden, Future Feminism und die Möglichkeit, dass wir unsere Formen von Denken, unsere spirituellen Ideen und unsere gesellschaftlichen Strukturen, wie unsere Beziehungen erst noch mit dem Rest der Natur in Einklang bringen müssen. Anohni werde als Transgender-Aktivistin bezeichnet, aber "wenn überhaupt, dann war mein Trans-Sein ein Weg, mir zu helfen, zu verstehen, was eindeutig meine pulsierende Verbindung mit dem Rest der Natur ist", sagt Anohni. "Zu erkennen, dass ich wirklich ein Produkt der Natur war, und zwar auf eine besondere Art und Weise." Erneut schaut sie in ihren Songs auf die gesellschaftlichen Strukturen. Der Song "Scapegoat" zum Beispiel sei eine Fortsetzung eines Themas, das sie beschäftigt seit sie begonnen hat, Songs zu schreiben. "Ich hatte einen Song namens "Cripple on a starfish"; 1990 habe ich dieses Lied geschrieben und es ist irgendwie die gleiche Geschichte, oder der Song "Dronebomb me". Sie alle befassen sich damit, wie sich geschundene Körper in den Familien oder in der Gesellschaft drehen und wenden, um klarzukommen und selbst etwas Gutes zu schaffen", sagt Anohni. Überdies geht es ihr auch darum, dass Fühlen, Instinkt und Intuition archetypisch Frauen zugeordnet und damit in einer patriarchalischen und auch in einer post-patriarchalischen Gesellschaft als zweitklassig eingeordnet werden. Dabei sind es gerade Fühlen, Instinkt und Intuition, die uns zu Lösungen für die Krisen unserer Zeit führen könnten.

Gearbeitet hat Anohni zum ersten Mal mit dem Soul-Produzenten Jimmy Hogarth (Amy Winehouse, Duffy, Tina Turner) – eine Premiere für Anohni, die alle bisherigen Johnsons-Alben selbst komponiert und produziert hat. Dafür rekrutierte Hogarth eine Studioband, bestehend aus Leo Abrahams, Chris Vatalaro, Sam Dixon und dem Streicherarrangeur Rob Moose. Hogarths intuitives Gitarrenspiel ist letztendlich der Leitfaden durch die zehn neuen Songs. Ein Paradigmenwechsel, denn zuvor wurde Anohnis wundervolle Stimme entweder durchs Klavierspiel getragen, durch Drone-Sounds oder von anderer elektronischen Begleitung. Die neuen Songs changieren zwischen amerikanischem Soul, britischem Folk und experimenteller Musik. Sind mal zärtlich, mal sehr dringlich, ja fast dissonant bohrend. "Ich möchte, dass die Platte nützlich ist", sagt Anohni. "Ich kann von einem Bewusstsein singen, das anderen das Gefühl gibt, weniger allein zu sein. Menschen, für die die offene Artikulation dieser beängstigenden Zeiten keine Quelle des Unbehagens ist, sondern ein Grund für Identifikation und Erleichterung. Ich möchte, dass meine Arbeit anderen hilft, mit Würde und Widerstandskraft durch diese Gespräche zu gehen, die wir jetzt führen müssen."

Claudia Gerth, radioeins

Tracklisting

1.
It Musst Change
2.
Go Ahead
3.
Sliver Of Ice
4.
Can't
5.
Scapegoat
6.
It's My Fault
7.
Rest
8.
There Wasn't Enough
9.
Why Am I Alive Now?
10.
You Be Free

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