Album der Woche - "It's All Happening" von Ilgen-Nur

"It's All Happening" von Ilgen-Nur (Borali) © Power Nap Records
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"It's All Happening" von Ilgen-Nur (Borali) | © Power Nap Records

Als 2017 Ilgen-Nurs Solo-EP "No Emotions" erschien, war die junge Songwriterin schnell in aller Munde. Ihr damaliger Slacker-Sound wurde als die neue Coolness im deutschen Indie-Pop gefeiert, es folgte eine Europa-Tour und Supports für Bloc Partys Kele Okereke und Tocotronic. Für Ilgen wurde ein Traum wahr, den sie von Kindheitstagen an geträumt hatte: Mit ihren eigenen Songs auf die Bühne!

Es ging ziemlich schnell damals, und bei aller Euphorie zog diese Zeit so rauschhaft an der 1996 bei Stuttgart geborenen Musikerin vorbei, dass sie sich manchmal vergewissern musste, ob sie das alles nicht vielleicht doch bloß träumte. Sie gewann Musikpreise, wurde zu Features eingeladen, ihre Songs wurden für erfolgreiche Netflix-Produktionen genutzt. Ilgen brach zwei Studiengänge ab, ging von Hamburg nach Berlin. 2019 kam dann ihr Debüt "Power Nap" raus, das sie gleich auf dem eigens dafür gegründeten gleichnamigen Label selbst veröffentlichte. Die Kritik reagierte begeistert.


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Dann kam die Pandemie. Stillstand. Wir sprechen von jener ungewissen Zeit Anfang 2020, die gerade für einen frischgebackenen Stern am Musikhimmel eine große Unsicherheit bedeutete. Für das SXSW (Austin, Texas) war sie in jenen folgenreichen Monaten gerade in den USA. Das Festival wurde abgesagt. Ilgen blieb. Und verliebte sich in L.A., wo sie bald im Laurel Canyon Unterkunft in einem Künstlerhaus fand, Menschen kennenlernte, mit denen sie sich identifizieren konnte. Zeit fand, sich zu sortieren. Vielleicht auch, um sich neu zu erfinden. Oder: zu finden!

In Los Angeles war sie umgeben von einem Sound, der sie seit Teenagerzeiten begleitet hatte und den sie nun, an seinen Entstehungsorten, noch einmal viel intensiver in sich aufsog, spürte, verinnerlichte: Joni Mitchell, Karen Dalton, Neil Young, Carol King, Rodriguez. Deutschland spielte in dieser Zeit musikalisch keine Rolle für sie. So erklärt sich vielleicht auch, warum Ilgen-Nurs neues, fulminantes Album "It's all Happening" viel mehr nach L.A. klingt, als nach Deutschland. Weil sie dort die glücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hat, wie sie rückblickend sagt. Für Ilgen stand fest: Sie musste wieder dorthin!

Nach einigen organisatorischen Hürden schließlich konnte sie 2022 ihr Stipendium an der Villa Aurora wahrnehmen und verfiel immer mehr jener glänzenden Stadt der gelebten Widersprüche, die sie so sehr inspirierte.

2022 dann also: L.A., chapter three. Mit einer Handvoll Songs im Gepäck ging Ilgen schließlich mit ihrem Wahlproduzenten Jon Joseph in dessen Studio in San Pedro, gelegen am südlichen Ende der wunderschönen Halbinsel Palos Verdes und im Osten angrenzend an den Hafen des leuchtenden Los Angeles. Maximilian Barth, ihr neuer Gitarrist, flog über den großen Teich, Sessionmusiker wurden eingeladen. IT‘S ALL HAPPENING nun, das Resultat dieser Zeit, zeigt eine neue Ilgen-Nur, die herausgefunden hat, wer sie sie sein will: wer sie ist. Es klingt warm und melancholisch, gibt ihrem dunklen Timbre genau die Fläche, die es verlangt. Und zeugt von gewonnener, hörbarer Reife. Selbstbewusst geben sich die Songs, die im Vergleich zu ihrem Debut an Tiefe und Dichte gewonnen haben, musikalischer geworden sind. So öffnen die vielschichtigen Kompositionen, die die Zugänglichkeit ihrer Musik niemals verstellen, zehn ereignisreiche Klangwelten. Auch die Produktion fährt einen anderen Ansatz, folgt diesem neuen Wesen in Ilgens Songwriting: Klaviere tauchen auf, Synthflächen verdichten den Sound – und liefern konstant genau jene Fläche, die die nach wie vor an Coolness kaum zu übertreffenden Gitarren in den Vordergrund stellen. Ilgens Stimme, ihr noch um einige Facetten gewachsener Gesang, finden so zum perfekten Gewand, dreamy, seidenweich und von dunkler Klangfarbe. Die gewonnene Ruhe, ihr starkes Songwriting und die feinsinnige, dichte Produktion, lassen "It's all Happening" zu einem Gleitflug über das nächtliche L.A. werden: dort unten die Lichter, oben der Mond – und dazwischen die Freiheit. Das alles passiert auf diesem wunderbaren Album! Der Titel kam zu ihr, als die Platte fertig war, und sie begriff, was ihr Umfeld ihr seit Beginn der Produktion mit leuchtenden Augen immer wieder sagte: Ja, das alles passiert wirklich!

"Lookout Mountain", der erste Song, wirkt programmatisch: ein Liebesbrief an die Stadt, geschrieben 2020 und als einzige Nummer bereits live erprobt. Von hier aus entsteht passenderweise auch ein Ausblick auf das Album, der bereits deutlich aufzeigt, welcher Facettenreichtum einen als Hörer erwartet. "Purple Moon", erste Singleauskopplung, schrieb Ilgen erst kurz vor der Studiozeit, schon in L.A.! Für sie ist das Stück dieser eine Song, den man schreibt, statt sich mit zehn Skizzen aufzuhalten. Hier zeigt sich die gewonnene Souveränität einer jungen Songwriterin, die kurz davor steht, etwas Großes zu verewigen. "Sweet Thing" begann sie als Song für eine Person, bis das Lied übernahm und ihr zeigte, dass es sich vielmehr an den Mercedes richtet, in dem sie es 2022 geschrieben hatte – und der 1988, bald zehn Jahre vor ihrer Geburt, in (funfact!) Vaihingen gebaut wurde, gleich neben ihrem Heimatort Wendlingen. "The Unknown" ist eine Erkundung des Unbekannten, lehnt sich zurück – und richtet sich darin ein, umarmt den Zustand, nicht alles verstehen zu können, was einem im Leben erfährt. "Red Rock Road" hat sie in den Bergen in einer typischen Cabin bei Topanga geschrieben, in der Natur, und die Stille und Andacht überträgt sich in den heimlichen Hit des Albums. "Der Stern" entstand in Deutschland, zusammen mit Musikerfreund Nicolas Fehr auf dem Dach des Berliner Funkhauses, in einer lauen Sommernacht, und geht aus von einer Tarotkarte, die Einklang, Inspiration und Harmonie aufruft – und hier die passende Musik dazu findet. "Dream of Hell" ist inspiriert von einem Buch Don Miguel Ruiz' (Four Agreements), einer Suche nach dem Selbst, die auch Ilgen-Nur erlebt hat und nun in ihrem Album manifestiert. "Momentary Bliss" ist eine Auseinandersetzung mit Berlin und der Beobachtung, wie oft die Menschen in der Hauptstadt in eine Lebenslüge driften aus Drogen und Gefangenschaft. "Star Light", der sie zunächst nicht zufriedenstellte und in Hamburg eine neue Version erfuhr, ist ein Liebeslied, spricht dabei von falscher Liebe, vom Tunnel, den diese bedeuten kann, deckt die Traumwelt auf, der man bisweilen verfällt. Und in "Windows are Mirrors" dann kommt all das nochmal zusammen, bleibt eine Erkenntnis, die für Ilgen fortan mit diesem Meisterwerk verbunden sein wird: Windows are mirrors / You are the things you want to be. Ilgen-Nur hat sich dieser Prämisse gestellt und ein Album daraus gemacht. Es ist großartig geworden!

Hendrik Otremba

Schreiben und gewinnen